Vom Faltenkiller zum Heilmittel – und jetzt soll es noch zum Antidepressivum werden? Wie das Nervengift Botulinumtoxin auf die Psyche wirkt und welche Auswirkungen es auf Depressions-Patienten hat.
Botox lähmt. Und sorgt so dafür, dass Nicole Kidmans Stirn auch mit 50 noch glatt wie ein Babypopo ist – und ihre Mimik leider ziemlich steif. Seit gut 25 Jahren kennt man Botulinumtoxin, wie es mit medizinischem Namen heißt, und nutzt es als Standard gegen Falten auf der Stirn. Ob dieser Bügeleffekt Sinn macht, ist sehr umstritten. Ganz klar dagegen spricht: wie das Nervengift wirkt. Gewonnen aus dem Bakterium Clostridium botulinum, blockiert es die Botenstoffe zwischen Nerven und Muskeln, sodass Letztere innerhalb von drei bis 14 Tagen gelähmt werden – und für rund vier Monate auch bleiben.
Entdeckt wurde dieser Effekt ganz zufällig: Anfang der 90er‐Jahre behandelte ein kanadisches Ärzte‐Ehepaar einen Lidkrampf mit Botox und stellte fest, dass sich die ausgeprägten Linien rund um das Auge entspannten und zarter wurden. Ihre weiteren Untersuchungen gelten als Startschuss für die ästhetische Medizin – dass daraus irgendwann ein Mittel gegen Depressionen werden sollte, war lange nicht abzusehen. Und genauso wenig die gesellschaftliche Debatte: Kritiker beanstanden, dass man fahrlässig mit einem Nervengift umgehe und damit natürliche, individuelle Gesichtszüge ausradiere, die Mimik stilllege. Unbestritten ist aber der positive Effekt, den Botox schon länger bei der Behandlung von schweren Krankheiten hat.
Da sind zum Beispiel die Schlaganfallpatienten, die unter einer Spastik der Hand leiden und sie ständig zur Faust ballen. Mit Botox kann man sie öffnen und manchmal sogar das Greifen wieder möglich machen. Bei Harninkontinenz oder einer überaktiven Blase wird es in mehrere Areale der Harnblasenmuskulatur gespritzt. So kann das Organ wieder mehr Urin aufnehmen und die Patienten müssen seltener zur Toilette. Bewährt hat sich Botox auch, um die Spannung einzelner Muskeln im Bereich von Kiefer, Hals, Nacken und der Füße zu reduzieren. Aktuell ist es für die Behandlung von 15 Erkrankungen zugelassen.
Dass man Botox jetzt auch bei der Behandlung von Depressionen einsetzen will, ist kein weiterer kleiner Schritt, sondern vielleicht ein Quantensprung. Denn Depressionen betreffen viele Menschen (und damit auch massiv die Finanzen der Krankenkassen): Seit dem Jahr 2000 hat die Zahl der Krankschreibungen aufgrund von Depressionen um 70 Prozent zugenommen. Und laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird die psychische Erkrankung schon 2020 weltweit die zweithäufigste Volkskrankheit sein.
Doch wie soll ein gelähmter Muskel wieder glücklich machen, für Ausgeglichenheit und Tatendrang sorgen? „Viele denken, wenn man besser aussieht, fühlt man sich auch besser. Doch darum geht es hier nicht“, stellt Dr. Axel Wollmer klar. „Die Annahme, dass Botox bei Depressionen helfen kann, beruht vielmehr auf der Facial‐Feedback‐Theorie“, so der Chefarzt der Gerontopsychiatrie an der Asklepios Klinik Nord in Hamburg. Das Zusammenspiel aus Gefühl und Mimik haben Charles Darwin und William James schon vor über 100 Jahren entdeckt. Wütende Menschen ziehen die Augenbrauen zusammen und fröhliche Menschen lächeln, klar. Dass aber auch umgekehrt ein absichtliches Lächeln die Laune heben kann, dass negative Gefühle gemildert werden, wenn die entsprechende Mimik gehemmt wird, war damals neu.
Diesen Rückkopplungseffekt hat Dr. Wollmer zusammen mit Prof. Tillmann Krüger von der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover als Basis ihrer ersten kontrollierten Studie genutzt. Ihr Ergebnis: „Im Bereich, wo die Zornesfalten ent‐ stehen – in der mittleren, unteren Stirnpartie, zwischen den Augenbrauen –, werden negative Emotionen ausgedrückt. Wenn wir die Rückkopplung, die hier durch die Verspannung der Muskeln entsteht, unterbrechen, indem die Muskelanspannung nach einer Botox‐Injektion gar nicht mehr möglich ist, dann werden auch diese Gefühle weniger“, so Dr. Wollmer.
Das bedeute allerdings nicht, dass Trauer und Schmerz weniger werden. Denn das sind normale Reaktionen, die zum Beispiel auf einen Verlust folgen. Doch Depressionen haben nicht immer mit realen Anlässen zu tun. „Und wie unsere Studie zeigt, kann man dieses krankhafte Übermaß an negativen Emotionen in vielen Fällen mit Botox lindern“, so Dr. Wollmer. Die Studie ergab, dass sich bei 60 Prozent der teilnehmenden Patienten die Depressionswerte um mindestens 50 Prozent reduzierten. Und zwar so lange, wie die muskelentspannende Wirkung anhielt, zwischen zwei und sechs Monaten. Derzeit suchen die Wissenschaftler für eine größere Studie Patienten, die unter der Borderline‐Persönlichkeitsstörung leiden. Auch für sie erhofft man sich eine positive Wirkung von Botox.
Im Vergleich zur ästhetischen Medizin, die heute um einen natürlicheren Look bemüht ist und deshalb eine gewisse Restmimik zulässt, wird bei Depressionen der Muskel, der die Augenbrauen zusammenzieht, komplett stillgelegt. Dafür ist eine größere Menge Botulinumtoxin nötig als bei der Behandlung von Falten. Denn möglicherweise reicht bereits eine kleine Restmimik in der Region zwischen den Augenbrauen aus, um die Facial‐Feedback‐Schleife aufrechtzuerhalten. „Aber die Patienten bekommen keinen starren Gesichtsausdruck“, sagt Dr. Wollmer. „Eine optische Veränderung beim Blick in den Spiegel nehmen nur die Patienten unmittelbar wahr, die sichtbare Falten haben. Zum Beispiel ein ,Omega‐Melancholicum‘ – das ist ein Faltenmuster im Bereich der Stirn in Form des griechischen Buchstabens Omega. Durch die Injektion verschwindet es.“
Die muskelentspannende Wirkung tritt nach etwa drei Tagen ein, nach einer Woche hat sie sich voll entfaltet. Spricht der Patient auf die Therapie an, spürt er meist schon 14 Tage später eine signifikante Besserung. Wenn man bedenkt, wie lange die meisten Patienten aktuell auf eine Gesprächstherapie warten müssen und wie viele Nebenwirkungen Antidepressiva haben können, versteht man, warum sich so viele Patienten für die neue Therapiemöglichkeit interessieren.
Außer einem kleinen blauen Fleck oder vorübergehenden Kopfschmerzen, die gelegentlich auftreten können, sind kaum Nebenwirkungen zu befürchten. Und da der Wirkstoff schon so lange gegen Falten genutzt wird, ist die Datenlage zu Sicherheit und Verträglichkeit gut. Dr. Wollmer: „Botox erzeugt einen lokalen Effekt ohne systemische Nebenwirkungen.“ Ein Nachlassen der Wirkung oder die Folge, dass der Muskel durch die Lähmung später nicht mehr aktiv wird, konnte man im Rahmen der Studien nicht beobachten.
Aber bei einer mehrfachen Anwendung besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass das Immunsystem darauf aufmerksam wird und Antikörper bildet, die die Wirksamkeit abschwächen oder gar unterbinden – ein Problem, das bei größeren Muskelgruppen auftreten kann, etwa wenn jemand mit großen Mengen bei einer Spastik im Bein behandelt wird. Ganz wichtig: Die Behandlung mit Botox soll und kann weder die medikamentöse noch die Psychotherapie ersetzen. Man könne sie aber, so Dr. Wollmer, als einen weiteren Baustein für die komplexe Behandlung von Depression sehen.
Bisher ist die Botox‐Therapie bei Depressionen noch nicht zugelassen und wird deshalb nur off‐label, also ohne Indikationszulassung, gespritzt. Heißt: Außerhalb der Studien müssen die Patienten die Kosten selbst tragen. Und das Risiko: Denn auch wenn die ersten Studien vielversprechende Ergebnisse zeigen, ist der Einsatz bei Depressionen noch umstritten. Kritiker warnen, dass die Studienlage nicht ausreichend sei und Vergleichsstudien fehlten. Neben den aktuellen Forschungen hat der amerikanische Botox‐Hersteller Allergan im April vergangenen Jahres eine Zulassungsstudie angekündigt. Wie lange sie dauert, ist schwer abzuschätzen. Zwei, drei Jahre werden es mindestens sein.