An einer klinischen Medikamentenstudie teilnehmen? Das klingt riskant, ist aber für manche die letzte Hoffnung. Wie solche Tests ablaufen – und was eine Migräne-Patientin mit Impfungen auf Probe erlebte.
Auch dieser Morgen beginnt für Charlotte wie jeder andere – mit einem ängstlichen In-sich-Hineinhorchen: „Kündigt sich eine Attacke an oder bleibe ich heute verschont?“ Ihr Herz beginnt zu rasen, denn ja, langsam, aber deutlich kriecht der Migräne-Schmerz in ihre linke Stirnhälfte. Nimmt die Buchhändlerin jetzt nicht sofort ihr Schmerzmittel, entfesselt sich der Anfall. Licht, Gerüche und Geräusche werden dann unerträglich, Übelkeit und Erbrechen bestimmen ihren Tag. Nach 30 Jahren mit immer häufigeren Anfällen und erfolglosen Therapien fühlt sich die 52-Jährige, als habe sie die Kontrolle über ihr Leben verloren. „Nehme ich meine Pillen zu spät, entgleist die Attacke und ich muss in die Notaufnahme.“ Dort bekommt sie Infusionen gegen die Übelkeit und zur Schmerzlinderung. An diesem Tag schafft sie es, die Attacke rechtzeitig abzuwenden. Am Abend stößt sie in einer Facebook-Gruppe auf die Info, dass in Berlin ein Impfstoff getestet wird, der die Migräne-Vorbeugung revolutionieren soll: hochspezifisch wirksam und gut verträglich. Eine Injektion pro Monat reiche aus. Und: Es werden Probanden gesucht.
Ob im Internet oder auf Werbeflächen in U-Bahnen: Immer häufiger liest man „Probanden für klinische Studien gesucht!“, Charlottes Testreihe ist keine Ausnahme. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln suchte kürzlich etwa Gesunde zwischen 24 und 55 Jahren, die sich 58 Tage lang stationär aufnehmen lassen und dabei 30 Tage Bettruhe in simulierter Schwerelosigkeit einhalten – mit tiefer gelagertem Kopf und erhöhtem Kohlendioxid-Gehalt in der Luft, eine echte Herausforderung.
Besonders spannend und gleichzeitig beängstigend klingen Aufrufe, bei denen die Wirkung neuer Arzneimittel erstmalig an Menschen erprobt werden soll. Schließlich hörte man in den letzten Jahren vereinzelt von Testreihen mit fatalem Ausgang, wie zuletzt 2016 im französischen Rennes: Dort starb ein gesunder Teilnehmer durch ein Medikament, das bei Alzheimer zum Einsatz kommen sollte. Also geht man doch ein unüberschaubares Risiko ein, wenn man sich als menschliches Versuchskaninchen zur Verfügung stellt? „Bevor ein Arzneimittel das erste Mal am Menschen erprobt werden darf, muss es eine Vielzahl von vorklinischen Tests durchlaufen“, erklärt Maik Pommer, Pressesprecher des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte: Probereihen im Reagenzglas und Tierversuche an unterschiedlichen Spezies. „Erst wenn diese Untersuchungen keinerlei Hinweise auf erhöhte Risiken zeigen, darf ein neuer Wirkstoff an Menschen klinisch geprüft werden.“ Jeder Studienantrag muss außerdem zweifach genehmigt werden, von der zuständigen Zulassungsbehörde und von einer unabhängigen Ethik-Kommission. „Schwere Zwischenfälle sind dank der mehrfachen Absicherung extrem selten“, bekräftigt Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer der Abteilung Forschung im Verband Forschender Arzneimittelhersteller. Wie akribisch der Entwicklungsprozess abläuft, zeigt auch die Dauer vom ersten Forschungsansatz bis zum marktreifen Mittel: Rund 13 Jahre vergehen im Durchschnitt, bis ein Präparat grünes Licht bekommt. Und von 5000 bis 10 000 Substanzen aus den Labors schaffen es nur neun zur ersten Erprobung am Menschen.
Charlotte wischt alle Bedenken vom Tisch: „Als ich von der Testgruppe las, war ich wie elektrisiert und rief sofort im zuständigen Schmerzzentrum Berlin an.“ Nach einem langen Telefonat mit der „Study Nurse“, wie die studienbegleitenden Krankenschwestern genannt werden, vereinbart sie einen Termin für das Screening. Dass das Studienzentrum 300 Kilometer entfernt liegt, spielt keine Rolle: „Bei meinem Leidensdruck wäre ich bis ans Ende der Welt gefahren.“
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Grundsätzlich unterscheidet man zwei Arten von Studien, erklärt Dr. Throm: „Es gibt die frühen Testreihen, in denen mit gesunden Probanden erstmals die generelle Verträglichkeit eines Wirkstoffs getestet wird. Und dann die Studien mit Patienten mit bestimmten Krankheitsbildern, um konkrete Wirksamkeit und optimale Dosierung eines Medikaments zu erforschen.“ Für gesunde Probanden erscheint das schnelle Geld ohne „echte“ Arbeit oft reizvoll. In der eingangs erwähnten Raumfahrt-Studie waren immerhin 10 000 Euro Aufwandsentschädigung geboten. „Doch jedem muss klar sein, dass während eines mehrwöchigen stationären Aufenthalts ein normales Leben unmöglich ist“, gibt Throm zu bedenken.
Deshalb machen Betroffene bestimmter Krankheitsbilder wie Charlotte mit ihrer Migräne wohl auch den größten Teil der Interessenten aus. Vor allem bei häufig auftretenden Leiden wie Arthrose, Brust- und Lungenkrebs, Depressionen, Diabetes oder Asthma sind die Chancen groß, auf eine vielversprechende Arzneimittelstudie zu stoßen und als Erster von einer neuen Therapie zu profitieren. Doch eine Wunderheilung darf man dabei nicht erwarten. Dr. Alen Jambrecina vom ärztlichen Leitungsteam des Clinical Trial Center North in Hamburg erklärt: „In frühen Studienphasen profitiert man persönlich eher selten, da oft noch nach der richtigen Dosierung beziehungsweise der Stärke des erwünschten Effekts gesucht wird. In späteren Phasen, kurz vor der Zulassung eines Arzneimittels, darf man mit den meisten positiven Effekten und den wenigsten Nebenwirkungen rechnen.“
Am Anfang jeder klinischen Studie steht eine schriftliche und mündliche Patienteninformation: genauer Ablauf, Dauer und Ziel der Studie, ob und mit welchen Nebenwirkungen zu rechnen ist, wie der Daten- und Versicherungsschutz gewährleistet wird. „Jeder Proband muss persönlich durch einen Arzt aufgeklärt werden und hat Bedenkzeit, bevor er schriftlich einwilligt“, so Throm. „Die Teilnahme ist freiwillig, die Einverständniserklärung kann auch während der laufenden Studie jederzeit, ohne Angabe von Gründen, zurückgenommen werden.“ Danach besteht der Anspruch auf reguläre Weiterbehandlung, sodass keine Nachteile entstehen. Wichtig: Seriöse Anbieter fordern nie Geld für die Aufnahme in eine Studie! Nächster Schritt: ein sogenanntes Screening mit Blut- und Urinauswertung, Blutdruckmessung und EKG. „Wir prüfen, ob der Betreffende wirklich an der Krankheit leidet, um die es geht, und ob Nebenerkrankungen vorliegen, die gegen eine Teilnahme sprechen“, fasst Dr. Jambrecina zusammen.
Im Schmerzzentrum Berlin nimmt Dr. Jan-Peter Jansen, der Leiter des Instituts, die Untersuchung bei Charlotte vor. Sie kennt ihn aus einer Ratgeber-Sendung im Fernsehen. Er bespricht ihre Krankengeschichte und Vorbefunde. Die erforderlichen Checks werden durchgeführt, Fragebogen zum allgemeinen Gesundheitszustand, zu ihrer seelischer Verfassung und natürlich zur Migräne beantwortet. Zum Schluss bekommt sie ein Smartphone: Sie soll in der nächsten Zeit ein elektronisches Tagebuch führen und alle Anfälle dokumentieren.
Generell erhalten Teilnehmer einer Studie aus Datenschutzgründen eigene Code-Nummern, über die dann Daten an Pharmaunternehmen oder die Zulassungsbehörde übermittelt werden. Die meisten Testreihen laufen als randomisierte Doppelblindstudien ab: Ein Teil der Patienten erhält per Zufallsprinzip das neue Prüfmedikament, der andere die Standardmedikation. Weder Studienarzt noch Teilnehmer wissen, wer der Test- und wer der Vergleichsgruppe angehört – daher: doppelblind. „So vermeidet man Einflüsse einer positiven oder negativen Erwartungshaltung“, sagt Dr. Throm. Ein elektronisches Tagebuch wie bei Charlotte ist bei ambulanten Studien üblich, es dokumentiert Einnahmen und körperliche Reaktionen. „Bei schweren Nebenwirkungen wird sofort abgebrochen. In meinen 16 Jahren als Studienarzt ist das etwa fünfmal passiert“, so Dr. Jambrecina.
Ob es letztlich sinnvoll ist, an einer Studie teilzunehmen, muss natürlich jeder selbst abwägen. Im besten Fall erfährt man eine intensive medizinische Betreuung auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Und erspart sich möglicherweise Leidenszeit – wie Charlotte: Einen Monat nach ihrem Screening wird sie in die Studie aufgenommen und darf zur ersten Spritze kommen.
Als die Study Nurse die Injektions-Ampulle aus dem Kühlschrank holt, betet Charlotte, dass es das neue Serum ist – und dass dieses auch wirkt. „Wieder zu Hause habe ich ständig gelauert, ob die Migräne heraufzieht.“ Und ja, Attacken kommen, aber die Intervalle dazwischen werden länger. Als sie drei Tage am Stück ohne Schmerzen erlebt, kann sie ihr Glück kaum fassen. „Als würde ich aus einem eisernen Panzer befreit werden.“ Nach jeder monatlichen Injektion geht es Charlotte besser, die Anzahl ihrer Anfälle sinkt um 75 Prozent. Ohne Nebenwirkungen. Bald ist die einjährige Studie zu Ende, danach muss sie mindestens noch ein Jahr warten, bis der Migräne-Impfstoff – hoffentlich – auf den Markt kommt. „Er muss einfach zugelassen werden! Ich habe endlich wieder Spaß am Leben.“
In Phase I wird ein Wirkstoff erstmals einer kleinen Gruppe von gesunden Freiwilligen verabreicht, nachdem umfangreiche Studien im Reagenzglas und an Tieren ausreichende Sicherheit nachgewiesen haben. Es geht um die Bestätigung der Wirkstoffverträglichkeit. An Phase II nehmen einige Hundert Patienten teil. Dabei soll die konkrete Wirksamkeit überprüft, die Dosis optimiert werden. Auch jetzt bestehen sorgfältige klinische Kontrollen. In Phase III nehmen dann meist mehrere Tausend Patienten teil. Getestet wird, ob das Medikament deutlich besser wirkt als bereits verfügbare Arzneimittel und ob es Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten gibt. Klinische Studien der Phase II und III beziehen immer mindestens eine Kontrollgruppe in die Untersuchung ein. So kann die Wirksamkeit und Verträglichkeit des Prüfpräparates mit dem Effekt der Standardtherapie verglichen werden. In Phase IV wird der Einsatz eines bereits zugelassenen Medikaments auch bei besonderen Patientengruppen (z.B. Senioren, Mehrfacherkrankte) untersucht und nach bisher unbekannten, selteneren Nebenwirkungen geforscht.
Einen Überblick über aktuelle Studien finden Sie auf Homepages der Universitätskliniken und Webportalen wie clinlife.com oder mondosano.de.
Autorinnen: Tanja Pöpperl und Heike Weichler