Bis zu 30 Prozent aller Menschen leiden unter Schwindelgefühlen, besonders mit zunehmendem Alter. Was steckt hinter den Gleichgewichtsstörungen – und wie kann man sich wappnen?
Jeder kennt das Gefühl, wenn sich unvermittelt alles um einen herum dreht. Nach einer Karussellfahrt zum Beispiel oder einem Glas Wein zu viel. Doch wenn starker Schwindel ohne äußere Einflüsse auftritt, kann das die Betroffenen in Angst versetzen. „Vor allem beim ersten Mal ist das zutiefst beunruhigend“, bestätigt Matthias Tisch, Professor für Hals-Nasen-Ohren‑Heilkunde und Ärztlicher Direktor der Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. „Die Schwindelgefühle entstehen, wenn unsere körpereigenen Systeme zur Gleichgewichtskoordination beeinträchtigt sind und die Sinneszellen widersprüchliche Informationen melden.“ Deshalb spricht man auch nicht von einer eigenständigen Erkrankung, sondern von einem Symptom.
Grundsäzlich wird unterschieden zwischen dem peripheren Schwindel, der durch eine Störung des Gleichgewichtsorgans im Innenohr ausgelöst wird, und dem zentralen Schwindel, bei dem das übergeordnete Steuerzentrum im Hirnstamm betroffen ist. Bei manchen Menschen treten auch Mischformen auf. Die Wahrnehmung der verschiedenen Schwindelarten ist vielfältig: Mal scheint sich die Umwelt zu drehen, mal fühlt man sich wie aufeinem Schiff bei hohem Seegang, mal hat man das Gefühl, im freien Fall zu sein. Einige erleben leichte, nur ein paar Sekunden dauernde Attacken, andere leiden tagelang unter massiven Anfällen und starker Übelkeit. In allen Fällen ist eine ärztliche Abklärung unbedingt nötig, denn leider verschwindet der Schwindel meist nicht von selbst. „Aber oft verbessert sich die Symptomatik, wenn wir dem Patienten die körperlichen Zusammenhänge erklären“, so Prof. Michael Strupp, Oberarzt an der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums München und am Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum. Patienten müssen dabei keinen Untersuchungsmarathon befürchten: „Etwa 90 Prozent der Diagnosen lassen sich in wenigen Minuten, manchmal nur anhand einer eingehenden Befragung, stellen.“ Im Folgenden erklären wir die am häufigsten auftretenden Schwindelarten, nennen die Ursachen und Therapien, die helfen können.
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Die Patienten berichten von plötzlich einsetzender Gangunsicherheit und Schwankschwindel, häufig in Verbindung mit Angstgefühlen. Das kann minuten- bis stundenlang anhalten und bessert sich typischerweise bei Bewegung.
„Personen mit phobischem Schwindel beobachten verstärkt ihre Balance und reagieren schnell irritiert auf völlig normale Sinnesreize der Gleichgewichtsorgane, die andere Menschen nicht oder nicht so stark registrieren“, erklärt Prof. Strupp. Körperliche Untersuchungen bleiben in der Regel ohne Befund. Doch bestimmte Charakterzüge, wie Perfektionismus und ein ausgeprägtes Kontrollbedürfnis, machen manche Leute anfälliger für diese Schwindelform.
Zunächst steht das Ausschließen organischer Ursachen im Vordergrund, um die Patienten zu beruhigen. Dann ist es wichtig, den Betroffenen den Mechanismus ihres Leidens genau zu erklären. In ausgeprägteren Fällen kann auch eine medikamentöse Behandlung oder eine Verhaltenstherapie nötig sein.
Es kommt zu Attacken von Dreh- oder Schwankschwindel, die manchmal zeitgleich mit starken pulsierenden Kopfschmerzen auftreten – mal für wenige Minuten, mal mehrere Stunden lang. Charakteristisch ist der Zusammenhang mit Licht oder Geräuschempfindlichkeit, Übelkeit, Sehstörungen oder dem Auftreten einer Aura.
Dahinter kann eine Sonderform der Migräne stecken, deren Schwindelsymptom bei Frauen mindestens doppelt so oft vorkommt wie bei Männern.
„Wir geben Betablocker, die sich in der Migräneprophylaxe bewährt haben – auch wenn ihr Effekt hier bislang nicht bewiesen ist“, erklärt Prof. Strupp.
Die Betroffenen leiden unter anfallsartigem starkem Drehschwindel, Übelkeit, teilweise Erbrechen in Verbindung mit Tinnitus und Schwerhörigkeit. Die Beschwerden treten in unregelmäßigen Abständen auf und sind zeitlich meist auf einige Stunden begrenzt.
„Durch eine Resorptionsstörung staut sich Flüssigkeit, auch Lymphe genannt, im Innenohr und so entsteht ein Überdruck“, erläutert Prof. Tisch.
Mit Medikamenten lässt sich der Innenohrdruck senken. In seltenen Fällen muss operiert werden.
Bei raschen Bewegungen wie Aufstehen oder Hinlegen, Drehen und Neigen des Kopfes tritt plötzlich ein Drehschwindel auf, der einige Sekunden bis zu einer Minute lang anhält und im Ruhezustand wieder nachlässt. Manchmal kommen Übelkeit oder Erbrechen hinzu. Diese häufigste Form tritt bei 17 Prozent der Schwindelpatienten auf.
„Wir gehen davon aus, dass der Lagerungsschwindel durch versprengte Ablagerungen im Innenohr ausgelöst wird“, sagt Prof. Tisch. „Frei flottierende Steinchen reizen die Haarsinneszellen in den Bogengängen und die melden dann unklare Sinnesinformationen ans Gehirn.“
Einfache Körperübungen, auch Befreiungsmanöver genannt, bringen häufig schnelle Besserung. Hierbei leitet der Arzt den Patienten zu bestimmten Kopf- und Körperdrehungen an, um damit die beweglichen Ohrkristalle in einen Bereich des Bogengangs zu befördern, in dem sie dann keine Irritationen mehr auslösen können.
Zentral-vestibulärer Schwindel
13 Prozent aller Schwindelpatienten leiden unter Dauerschwindel, Doppelbildern, unkontrollierbarer Augenbewegung (Nystagmus), Lähmungserscheinungen, Koordinations- oder Sprachstörungen.
Hier steckt eine bedrohliche Durchblutungsstörung des Gehirns dahinter. „Mit der Kernspintomografie lässt sich oft ein Hirninfarkt nachweisen“, so Prof. Strupp. In seltenen Fällen lösen entzündliche Prozesse, wie multiple Sklerose, die Symptome aus.
In der Akutphase kann das Blutgerinnsel aufgelöst werden. Alles Weitere hängt von der konkreten Ursache ab, meist werden Blutverdünner verordnet.
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A - Trommelfell
B - Hörschnecke
C - Hammer
D - Amboss
E - Gehörgang
F - Bogengänge
Das Gefühl, in Balance zu sein, steuert unter anderem unser Gleichgewichtsorgan im Innenohr. Eine besondere Rolle spielen dabei die drei Bogengänge – auf dieser alten Illustration mit dem Buchstaben F beschriftet. Ihre Sinneszellen erfassen Lage- und Geschwindigkeitsveränderungen und leiten die Information ans Kleinhirn weiter. Bei unklaren Signalen kann Schwindel die Folge sein.
Nein, laut Prof. Strupp stellen sich nicht mehr Patienten mit Schwindelgefühlen beim Hausarzt oder in den Schwindelambulanzen vor als früher. „Allerdings steigt mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit, dass entsprechende Symptome auftreten“, erklärt der Mediziner. Laut Studien klagt ein Drittel der 70-Jährigen über Probleme im Alltag, verursacht durch Schwindel und Gangunsicherheit. Woran das liegt? „Wie alle sensorischen Systeme altern und fehleranfälliger werden, reduziert sich auch die Funktion des Gleichgewichtsorgans“, so Strupp.
Ja – und zwar in jedem Alter. „Wer etwa sein Leben lang Ballsportarten gespielt und regelmäßig die Balance trainiert hat, wird später weniger Probleme haben, altersbedingte Einschränkungen auszugleichen“, sagt Prof. Strupp. „Tanzen ist generell eine prima Gleichgewichtsübung, aber auch Sport, der die Koordination fördert, zum Beispiel Tennis, eignet sich zur Prophylaxe.“ Der Neurologe rät darüber hinaus zu täglicher Bewegung. Dabei reicht es schon, kurze Wege zu Fuß zurückzulegen. Ideal sind pro Tag drei kurze Spaziergänge von je 20 Minuten, wenn möglich auf leicht unebenem Gelände, etwa Waldboden. Älteren Menschen rät Prof. Tisch, die Tiefensensibilität zu schulen: Statt Rollator solle man mal zu Nordic-Walking-Stöcken greifen. „Auch Balanceübungen, die man zu Hause mithilfe einer Spielekonsole auf einem Board ausführt, sind sehr effektiv“, so der HNO-Experte.
„Diese Annahme ist weitverbreitet, aber der Einfluss der Blutdruckregulation auf Schwindelempfindungen wird überschätzt“, stellt Neurologe Strupp klar. Zwar ist einem manchmal kurz schwummerig, etwa wenn man zu schnell aus der Hocke aufsteht, doch dieses Gefühl verschwindet schnell wieder und hat eher nichts mit einer Störung der Gleichgewichtssysteme zu tun. Seltenere Schwindelursachen sind Nebenwirkungen von Medikamenten oder schlechtes Sehen. Dass Blockaden der Halswirbelsäule Schwindel auslösen können, bezweifelt Strupp.
Ach, das ist doch nur ein Hypochonder…Mit diesem Stempel leben viele Betroffene. Dabei ist das Empfinden, das sie haben, immer real, und der Leidensdruck hoch – „oft besonders dann, wenn wir keine organische Ursache finden“, weiß Prof. Tisch aus der Praxis. „Man muss wissen, dass Gleichgewichtsprobleme auch zeitlich verzögert als Folgeerscheinung einer Viruserkrankung, die den Hörnerv irritiert hat, auftreten können. Die Erkältungssymptome sind dann längst abgeklungen, aber der Schwindel meldet sich verspätet als Sinneseindruck, den das Gehirn durch die Nervenreizung abgespeichert hat.“ In vielen Fällen von funktionellem Schwindel spielt übrigens die „gerichtete Aufmerksamkeit“ eine große Rolle: „Jeder Gesunde, der sich stark auf seinen Gleichgewichtssinn konzentriert, fühlt sich nach einer Weile unsicher und schwindelig“, erklärt Prof. Strupp. Solche Wahrnehmungsmuster lassen sich aber auch wieder „verlernen“, durch Erklären des Mechanismus der Erkrankung (verstärkte Beobachtung der Balance) und gezielte körperliche Übungen.
Das kann sein, wenn die Ursache ein Schlaganfall im Bereich des Hirnstamms oder Kleinhirns ist. Meist haben die Patienten dann aber noch andere Beschwerden wie Doppelbilder, Schluckstörungen oder Lähmungen. Bei solchen Notfällen muss der Betroffene sofort in eine Klinik. Aber auch ein Sturz birgt natürlich Risiken. „Daher sollte man jede Form von Schwindel grundsätzlich abklären lassen“, empfiehlt Prof. Tisch.
In einigen deutschen Kliniken gibt es sogenannte Schwindelambulanzen mit interdisziplinären Teams, unter anderem mit Neurologen, HNO-Ärzten, Psychiatern und Physiotherapeuten. Sie sind auf die Diagnose von Schwindelerkrankungen spezialisiert.
Ist die Schwindelform bereits erkannt und der Patient in Behandlung, bietet die kostenlose App „Tebonin“ Übungen gegen den Lagerungsschwindel (mit Videoanleitung!). Außerdem lassen sich Intensität und Verlauf des Schwindels, aber auch Trainingserfolge erfassen.