Rückenschmerzen und Probleme mit dem Kreuz sind das Volksleiden Nummer eins, Tendenz steigend. Mehr als sechs Millionen schlucken deswegen ein- bis zweimal pro Woche Schmerzmittel. Diese Zahlen nennt Professor Dietrich Grönemeyer in „Mein großes Rückenbuch“. Dabei ist sich der Mediziner sicher, dass man vielen Patienten Tabletten, Spritzen oder OPs ersparen könnte. Er betrachtet Rückenleiden ganzheitlich und setzt sich für eine undogmatische Zusammenarbeit von Naturheilkunde und Hightech-Medizin ein. Im Experten-Interview spricht er über Ursachen, Symptome und was wirklich gegen Rückenschmerzen hilft.
Ein Ziehen in den Schultern, ein Stechen in den Lenden – fast jeder kennt diese Schmerzen. Rückenbeschwerden haben sich nämlich zu einer ernstzunehmenden Volkskrankheit entwickelt. Rund 80 Prozent der Krankschreibungen in der Arbeitswelt erfolgen mittlerweile aufgrund von Problemen mit dem Kreuz (Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland nach Diagnose, Quelle: TK Gesundheitsreport 2014). Darunter leiden aber nicht nur die Betroffenen, auch die Wirtschaft trägt eine hohe Last. Experten beziffern die Schäden durch Ausfälle auf knapp 49 Milliarden Euro.
„Besonders Menschen, die ihren Rücken gar nicht trainieren und jene, die ihn überlasten, leiden unter Beschwerden“, sagt Prof. Dr. Frank Mayer, Professor für Sportmedizin und Sportorthopädie an der Universität Potsdam. „Nur in zwei von zehn Fällen lassen sich die Schmerzen auf konkrete Ursachen in der Wirbelsäulenstruktur oder den Bandscheiben zurückführen – in den anderen Fällen bereiten Sehnen, Bänder und Muskulatur Schwierigkeiten“, so Mayer weiter. Aber: Gegen diese unspezifischen Rückenbeschwerden kann man mit mehr Bewegung und der richtigen Haltung aktiv werden – und das bereits mit einfachen Maßnahmen in den eigenen vier Wänden.
Mit beinahe banalen Tricks lässt sich der eigene Bewegungsapparat im Alltag stärken und die Belastung des Rückens verringern. Die Minijob-Zentrale hat in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Frank Mayer die fünf wichtigsten Tipps für rückenschonende Haushaltsarbeit zusammengefasst und zeigt: Ein beschwerdefreies Kreuz ist kein Hexenwerk.
Die natürliche Form der Wirbelsäule verläuft s-förmig. „Egal bei welcher Tätigkeit, ob beim Heben schwerer Gegenstände oder beim Wischen des Bodens – die Wirbelsäule sollte immer achsgerecht belastet werden“, erklärt Prof. Mayer. Wischmopp, Staubsauger und Co. lassen sich in der Regel auf die eigene Körpergröße anpassen und sorgen so für eine aufrechte Haltung.
Die Muskulatur kann einen Großteil der Belastung für den Rücken abfangen. Wer seine Muskeln bei größeren Beanspruchungen voranspannt, verhindert eine Überanstrengung des passiven Bewegungsapparats. Den Einkauf, die vollen Wasserkisten oder andere schwere Lasten daher immer mit vorangespannter Muskulatur und aus den Knien heraus hochheben, so der Rat des Experten.
Allgemein gilt: Ein häufiger Positionswechsel schafft Entlastung. Haushaltstätigkeiten wie das Reinigen der Badewanne, bei denen man hocken oder knien muss, sollten sich daher regelmäßig mit Aufgaben abwechseln, die sich im Stehen erledigen lassen.
Bei Tätigkeiten im Stehen ist nichts schädlicher als eine zu niedrige Arbeitsfläche. Beim Kochen, Abwaschen oder Bügeln gilt daher: eine aufrechte Körperhaltung einnehmen und den Rücken entlasten. Zu niedrige Arbeitsflächen lassen sich bei Bedarf durch einen Aufbau anpassen.
Das A und O für einen gesunden Rücken bleibt die Umsetzung: viel Bewegung, ein regelmäßiges Training und die richtige Haltung.
Warum haben so viele Menschen Probleme mit dem Kreuz?
Der Mensch ist entwicklungsgeschichtlich für 42 Kilometer Gehen am Tag gemacht. Wir aber sitzen heute viel zu viel. Sitzen ist das neue Rauchen! Durch das ständige Herumhocken verkürzt sich die Muskulatur. Kommen permanenter psychischer Druck und negativer Dauerstress hinzu, gerät der Rücken immer mehr in eine Duckhaltung, die extrem belastend für Bandscheiben, Gelenke und Muskeln ist. Auch die Ernährung trägt ihren Teil zum Problem bei. Zu viel Weißmehl, Alkohol, Cola oder Limonade übersäuert den Körper. Bandscheiben, Sehnen und Knorpel verschleißen oder werden brüchiger. Letztlich ist ja die Hälfte der Deutschen zu dick.
Also sind wir selbst schuld an unseren Rückenschmerzen?
Nicht nur. Die Gene spielen schon auch eine Rolle. Das ergaben Studien mit eineiigen Zwillingen der Universität Sydney. Doch manche ruhen sich auf diesen Erkenntnissen zu sehr aus. Wir sind Individuen – und nicht exakt wie unsere Oma oder unser Vater. Durch bewusstes Verhalten und Training können wir lernen, gut mit einer nicht optimal vererbten Wirbelsäule zu leben.
Leiden Frauen und Männer unter den gleichen Beschwerden?
Ja, weitgehend. Lendenwirbelprobleme werden am häufigsten diagnostiziert, gefolgt vom Hals-Nacken-Schulter-Bereich und der Brustwirbelsäule. Dabei ist der Schmerzverursacher oft ein Knorpelverschleiß an den Gelenken, also Arthrose. Ärzte erkennen das leider selten, denn die Rückenmedizin ist sehr stark auf die Bandscheibe ausgerichtet. Dabei gehen nur drei Prozent der Schmerzen auf ihr Konto.
Laut einer Studie des Robert Koch- Instituts in Berlin plagen Frauen öfter Kreuzschmerzen als Männer.
Schuld daran sind die Hormone: Frauen haben ihre Periode, kommen in die Wechseljahre und haben zudem manchmal Zysten in Brust oder im Unterleib, die Rückenleiden auslösen. Frauen nehmen diese Probleme ernst und fragen ihren Arzt: „Was kann ich für mich tun?“ Männer sagen eher: „Ich will eine Operation, damit ich bald wieder fit bin.“ Und machen damit alles falsch. 80 Prozent der Kreuzbeschwerden beruhen auf verspannter Muskulatur. Mindestens die Hälfte der 60 000 Bandscheiben-OPs pro Jahr sind laut aktuellen Studien überflüssig.
Was hilft bei Muskelschmerzen?
Als Erstes die Frage, warum man so verspannt ist. Der eine hat Angst, den Job zu verlieren, und duckt sich. Der andere entwickelt beim Schreiben eine Fehlhaltung. Eine OP löst beide Probleme nicht. Im Gegenteil: Vernarbungen verursachen meist wieder Schmerzen. Besser ist es, sich eine Ausgleichshaltung anzueignen, Dehnübungen oder Entspannungstechniken zu lernen. Jeder braucht vier gute Experten: einen Schulmediziner, einen Osteopathen oder Physiotherapeuten, einen Naturheilkundler und einen Psychotherapeuten.
Sie bezeichnen den Rücken auch als „empfindsames psychosomatisches Organ“.
Ja, denn wenn ich mich freue, entspannen sich meine Muskeln. Bin ich bedrückt oder wütend, verspanne ich. Zudem fühlen wir uns neben unserem persönlichen Ballast ständig durch News von irgendwo auf der Welt bedroht. Ich schaue deshalb nicht mehr dauernd aufs Handy. Das Sich-wieder-Spüren geht doch nur, wenn man den Kopf frei hat. Es ist eine Frage der Haltung: „Wie stehe ich zu mir? Was will ich? Was nicht?“
Dafür fehlt Frauen zwischen Beruf, Familie und Haushalt oft die Zeit.
Das ist nach wie vor ein Riesenproblem. Aber gerade wenn alles über mir zusammenstürzt, muss ich kurz innehalten, um in Ruhe herauszufinden: Was ist wichtig? Einmal am Tag allein spazieren gehen – das macht den Rücken schon leichter. Auch 20-mal tief ein- und ausatmen. Und: Perfektionismus und Harmoniestreben zurückfahren! Beides schlägt auf den Rücken. Lieber lernen, Dinge liegen zu lassen. Meist passiert ja deshalb gar nichts Negatives.
In Ihrem Buch schreiben Sie auch vom Zusammenhang zwischen Depression und Rückenschmerz.
Chronischer Schmerz verändert einen Menschen. Man kann sich auf nichts anderes konzentrieren und wird irgendwann depressiv. Ich erlebe aber auch umgekehrt, dass Patienten versteckte Depressionen haben, jedoch über Rückenschmerzen klagen. Sie merken gar nicht, dass das eigentliche Problem ihre Situation oder ihr soziales Umfeld ist.
Muss Schmerz chronisch werden?
Nein. Er wird es nur, wenn die Angst davor das Schmerzgedächtnis ständig ankurbelt. Dann verspannen die Muskeln und der Rücken zwickt wieder. Besser finde ich die Strategie, jedes Mal, wenn die Angst kommt, an ein schönes Erlebnis zu denken. Auch klinische Hypnose kann gut helfen.
Was halten Sie von der These, das Schmerzgedächtnis mit Medikamenten zu überlisten?
Ich bin dafür, sofort etwas gegen den Schmerz zu unternehmen, bevor er im Kopf hängen bleibt. Allerdings würde ich es erst mal mit Hausmitteln probieren: mit Wärme oder Kälte, Massagen, Akupunktur oder Physiotherapie. Hilft das nicht, empfehle ich Naturheilmittel wie Teufelskralle oder Weidenrinde. Erst dann Aspirin oder Ibuprofen. Tut der Rücken nach drei bis sechs Tagen immer noch weh, muss man zum Arzt. Spätestens nach sechs Wochen diffusem Schmerz ist eine Kernspintomografie angesagt.
Und wenn was gefunden wird?
Ist die Mikrotherapie sehr erfolgreich. In unserem Institut in Bochum geben wir mit einer Sonde unter computertomografischer Sicht Medikamente direkt an die Stelle, an der die Bandscheibe auf den Nerv drückt. Sie schrumpfen die Bandscheibe, wirken abschwellend auf den Nerv. Es lässt sich auch Bandscheibengewebe mit einem Laser verdampfen. Bei Arthrose veröden wir mit der Radiofrequenztherapie einen Nerv auf dem Wirbelgelenk mit einem kleinen Hitzestoß und beruhigen ihn so. Das machen wir ambulant, der Patient ist schnell wieder fit.
Damit es gar nicht erst so weit kommt: Wie lässt sich vorbeugen?
Für mich gehört es zum Standardprogramm des modernen Menschen, einmal in der Woche in die Sauna zu gehen, sich alle 14 Tage massieren zu lassen und sich mindestens eine halbe Stunde täglich zu bewegen: joggen, wandern. Generell ist Tanzen für mich der beste Rückensport, weil es locker macht. Gefolgt vom Schwimmen.
Können wir unsere Wirbelsäule auch „gesund“ essen?
Kurkuma hilft bei nichtbakteriellen Entzündungen der Gelenke, die später Arthrosen auslösen. Brokkoli ist eines der besten Gemüse für den Rücken: reich an Kalzium zum Knochenaufbau, Magnesium zur Muskelentspannung, Vitamin C gegen Entzündungen. Und täglich mindestens 1,5 Liter trinken, damit Bandscheiben, Sehnen, Knorpel und Bindegewebe elastisch bleiben.
Derzeit fokussiert man sich ja auf die Faszien – unser Bindegewebe. Wie halten wir die locker?
Um sich lokale Faszien-Spannungen gleich wegzumassieren, habe ich immer einen Tennisball in der Tasche. Leichtes Springen auf einem Trampolin tut ebenfalls gut. Das Sportgerät sollte jedoch flexibel an Gummibändern hängen.
Also besser Trampolin als Tablet?
Genau. Wir gucken ja ständig nach unten und eh viel zu viel auf Mobiltelefone und Computer. Das Ergebnis ist dann ein Handynacken. Nur minimal abwärts zu schauen, entlastet diesen Bereich. Bestes Gegenmittel allerdings: drei Stunden täglich Handy aus!
Weitere Tipps und Übungen finden Sie in Prof. Dr. Dietrich Grönemeyers Ratgeber „Mein großes Rückenbuch“.