Wie hieß der neue Kollege noch mal? Und wie ging die PIN für die Kreditkarte? Leider lässt uns das Gehirn öfter mal im Stich. Gedächtnisweltmeisterin Christiane Stenger verrät, wie wir es gezielt trainieren können.
Kaum vorstellbar: 100 Milliarden Nervenzellen sind es, die unser Gehirn ausmachen. Und damit unsere ureigene Persönlichkeit. Die grauen Zellen im Kopf verarbeiten und speichern größere Datenmengen als der leistungsstärkste Computer. Ein Wunderwerk der Natur, das uns aber trotzdem immer mal wieder im Stich lässt. Lässt mein Gedächtnis nach? Diese Frage stellt sich wohl jeder mal insgeheim. Etwa wenn man merkt, dass man sich neue Namen schwerer merken kann. Wenn man wichtige Daten wie PINs vergisst. Oder wenn die Suche nach der Lesebrille ewig dauert, obwohl sie einem auf dem Kopf sitzt. Geht es denn wirklich bergab, sobald wir erst die 30 überschritten haben? Experten sind sich einig: generell leider ja. Im mittleren Erwachsenenalter gehe es los, und zwar bei jedem höchst unterschiedlich und individuell. Aber: Das sei alles halb so wild, handele es sich dabei doch um einen normalen Prozess. Den man – und das ist hier die gute Nachricht – selber durchaus aktiv beeinflussen kann!
Wer sich regelmäßig bewegt und etwa zehn Kilometer pro Woche spazieren geht, dazu neugierig auf Unbekanntes ist und soziale Kontakte pflegt, kann den Abbau den Gehirns deutlich verlangsamen. Denn die Synapsen im Gehirn, die für unsere Konzentrationsfähigkeit entscheidend sind, können bis ins Alter neu gebildet werden, vorausgesetzt, man gibt seinem Geist immer wieder was zu tun. Unser Kopf braucht wechselnde Herausforderungen, die verschieden mentale Leistungen erfordern. Wir haben die mehrfache Gedächtnisweltmeisterin Christiane Stenger gebeten, uns Übungen und Strategien zu verraten, die im Alltag spielerisch einsetzbar sind. Die Berlinerin weiß aus ihrer Arbeit, wie wichtig es ist, sein Gehirn nicht zu schonen, sondern es kreativ zu nutzen; dann kann es zu neuer Hochform auflaufen. Klar, Christiane Stenger, die sich bei einer WM in fünf Minuten 300 Begriffe einprägt und einen IQ von 145 hat, ist ein Ausnahmetalent. Trotzdem: Jeder kann ihre Tricks nutzen, ganz ohne Hochbegabung. Damit das klappt, ist vor allem eines ganz wichtig, wie sie sagt: das Vergnügen. Sonst steigt unser Gehirn sofort aus ... Viel Spaß also!
Grüne Bohnen, Radicchio, Thunfisch... und, äh, was noch? Oft denken wir, wenn wir zum Einkaufen gehen, dass wir alles im Kopf haben, was wir brauchen – und dann merken wir zu Hause: Es fehlt doch wieder die Hälfte. Eine Einkaufsliste schreiben ist die naheliegende Lösung. Aber man kann diese Alltagssituation auch nutzen, um das Gedächtnis zu trainieren. Am besten mit Bildern arbeiten, rät Christiane Stenger, weil sich unser Gedächtnis plakative Dinge besser merken kann als abstrakte. Anschließend sollte man die Begriffe, um die es geht, mit einer Geschichte verbinden. Etwa so: „Will ich beispielsweise die Zutaten für einen Salade niçoise parat haben, stelle ich mir vor, dass ein Ei versucht, den Thunfisch zu ärgern. Dann kommen die grünen Bohnen dazu, die mit dem Radicchio Tango tanzen, bevor sie in die Salatschüssel zu den anderen springen... Wichtig ist, die Szene wirklich bis ins kleinste Detail zu visualisieren.“ Außerdem gilt: Je skurriler die Geschichte, desto besser! Unser Gehirn tickt nämlich so, dass es sich an alles, was außergewöhnlich, eben im wahrsten Sinne „merk“würdig ist, leichter erinnern kann. „Dabei“, sagt Stenger, „muss man vielleicht eine kleine Hemmschwelle überwinden und sich auch mal auf kindliche Ideen einlassen. Aber genau das schult das Denken.“
Wieder mal ist am Tag zu viel liegen geblieben, 1000 offene Baustellen... Leider ist es so: Jede Unterbrechung bei einer Tätigkeit kostet unser Hirn Kraft, danach wieder dort anzuknüpfen, wobei es gestört wurde. Checken Sie also nicht alle zehn Minuten ihre E-Mails, wenn Sie gerade an der Steuererklärung sitzen – für das Gehirn ist jede neue Aktivität ein Eintritt in eine ganz neue Gedankenwelt. Lassen Sie sich bewusst mal nicht von außen ablenken. Unsere Expertin hat ihr Zeitmanagement mit der „Pomodorotechnik“ im Griff, benannt nach dem Erfinder, der eine Küchenuhr in Form einer Tomate hatte. „Ich stelle mir den Timer meines Smartphones auf 25 Minuten – das ist eine gute Spanne, in der man nicht viel anderes verpassen kann und die unserem Gehirn keine Angst macht, in der man aber sehr viel geschafft bekommt! Danach mache ich fünf Minuten Pause und beginne dann, wenn nötig, die nächste Einheit.“
„Willkommen, liebe Gäste..!“ Und dann plötzlich: Blackout... Damit das bei einer Präsentation oder Rede nicht passiert, empfiehlt die Expertin die Routenmethode. Dafür legt man Gegenstände, die man sich merken will, bei einem Gedankenspaziergang durch die eigene Wohnung ab: an der Treppe, auf dem Sessel, unter der Lampe ... Die Gegenstände verknüpfen sich so mit den Orten, ein inneres Bild entsteht. Um sich später an die Dinge zu erinnern, läuft man den gleichen Weg in Gedanken wieder – und sammelt alles sozusagen ein. Alternativ zur Wohnung verwendet Stenger auch gern den Körper. „Sie beginnen bei den Füßen, gehen über zu Knien und Rücken bis hin zu Ohren und Haaren. Jeder Körperteil steht für einen Aspekt, zu dem Sie sich ein Bild vorstellen, das Ihnen beim Erinnern hilft. Will man etwa bei einem Toast auf das Brautpaar zuerst schildern, wie sich beide kennenlernten (beim Online-Dating und anschließenden Mailverkehr), denkt man an einen Briefumschlag, den man auf den Füßen balanciert.“ Fassen Sie sich bei der Planung Ihrer Route bewusst an den Körperstellen an, die Sie gerade durchgehen; so verankern Sie das dazugehörige Bild noch besser im Gehirn. Und: Benutzen Sie auch beim Vortrag Ihre Hände. Gesten sind für unser Gehirn eine Denkhilfe. Wenn wir sprechen und gestikulieren, stellt das oft Zusammenhänge her, die uns sprachlich nicht bewusst sind. Die Hände geben den abstrakten Gedanken wortwörtlich Form – und plötzlich ist die Lösung da!
Handy zu Hause vergessen, aber man muss dringend die Freundin anrufen... Oh weh – da man sich mittlerweile komplett auf die Technik verlässt, steht man oft ratlos da. Oder beim Einkaufen: Man soll die PIN eingeben, plötzlich ist sie futsch. Und natürlich auch nirgends notiert ... Trainerin Christiane Stenger nutzt ein Merksystem, bei dem man sich für jede Ziffer von 0 bis 9 ein Symbol überlegt. Die Null ist bei ihr ein Ei, „weil beides rund ist. Merke ich mir eine Eins, sehe ich einen Baum, die Zwei ist bei mir ein Schwan, die Drei ein Dreirad, die Vier ein Schaf, wegen der vier Beine. Eine Hand mit fünf Fingern steht für die 5, die 6 symbolisiert ein Würfel, die 7 die sieben Zwerge, eine Achterbahn steht für die 8 und die 9 für neun Kegel.“ Auch bei dieser Technik geht es um Visualisierung: „Will ich die Zahl 402817 im Kopf behalten, sehe ich ein Schaf vor mir. Das legt ein Ei, aus dem ein Schwan schlüpft. Die beiden gehen Achterbahn fahren und holpern dann gegen einen Baum, von dem sieben Zwerge fallen.“ Wichtig: „Denken Sie sich das langsam aus und wiederholen Sie es oft. Nur so bilden sich Verknüpfungen zwischen den Gehirnzellen, es entsteht ein Trampelpfad. Damit der nicht zuwächst, muss er immer neu gegangen werden, um bald so breit zu sein wie eine Autobahn. Dann ist er zu 100 Prozent abrufbar.“ Hm, kompliziert. Da könnte ich mir ja gleich nur die Ziffern merken? „Natürlich“, so Stenger. „Vor allem wenn Sie sich leicht an Zahlen erinnern oder sich diese immer wieder vorsagen. Allerdings ist unser Gehirn eher faul und wird die reine Zahl schneller vergessen. Es lohnt sich, es zu fordern, immer wieder. Das geht mit kreativen Denklösungen besser. Und: Die Zahl bleibt länger im Kopf, je mehr Zeit Sie investieren, sie aktiv zu verinnerlichen.“
Wie hieß noch gleich „danke“ auf Türkisch? Ein paar Floskeln wären im Urlaub schon praktisch... Aber leider will und will der Begriff einfach nicht im Kopf bleiben? Manche Wendungen sind aber auch einfach sperrig. Christiane Stenger rät: „Sagen Sie sich das Wort laut vor und versuchen Sie, darin etwas schon Bekanntes zu entdecken. Unser Gehirn lernt bedeutend leichter, wenn es Anknüpfungspunkte hat.“ Nehmen wir beispielsweise „le panier/ der Korb“. Die Expertin: „Da lege ich mir im Geiste ein paniertes Schnitzel in den Korb oder paniere gleich das Ganze.“ Beim türkischen Wort für Wetter, „hava“, könnte man sich beispielsweise ein Schiff vorstellen, das wegen Unwetters in Havarie gerät. Und bei „tesekkür“, gesprochen „teschekür“, Türkisch für „danke“, kürt man vielleicht die schönsten Taschen, die der eigene Kleiderschrank gerade so hergibt. Stenger empfiehlt solche Bilder besonders bei Begriffen, die man immer wieder nachschlagen muss. „So zu lernen ist äußerst effektiv, weil man nicht einfach stur paukt, sondern das Ganze ein aktiver, fantasievoller Prozess ist. So wird die Bedeutung des Wortes optimal im Kopf verankert.“
„Guten Tag, äh...“ Namen kann man sich oft schwer merken. „Bei einer Vorstellung hat das Gehirn so viel zu tun, dass der Name an einem vorbeirauscht“, so Christiane Stenger. Jemand heißt Anna? „Stellen Sie sich dazu eine Ananas vor. Oder: Sabine mag gern Bienen, Gülcan fährt Kahn. Achten Sie dabei auch auf ein Merkmal der Person, wie Brille, Frisur, und bringen das als Bild zusammen.“ Also: Anna hat blonde Haare, deshalb kriegt sie eine Ananas auf den Kopf. Sie treffen einen Herrn Wasikowsky? Dann spielen Sie mit den Wortsilben: Herr Wasi-ko-wsky fährt mit einer Vase kochend Ski.“ So setzen Sie sich bewusst mit dem Namen auseinander, und er bleibt auch ohne Bild hängen. Aber was, wenn einem das Ganze aus Versehen rausrutscht, man also Anna mit Ananas anspricht? Stenger: „Das ist oft gar nicht schlimm, sondern eher witzig.“ Im Geschäftsleben können Sie so vorbeugen: Sprechen Sie den Namen beim Wiedersehen laut aus, so verankern Sie ihn besser im Unbewussten.
So ganz nebenbei fit im Kopf bleiben, die Kreativität trainieren, lernen, Probleme einfacher zu lösen. Unsere Expertin ist ein Fan von „Life Kinetik“: koordinativen Übungen, die von unseren alltäglichen und eingeübten Bewegungsabläufen abweichen und dadurch neue Verbindungen im Gehirn anlegen. Die sogar unseren IQ erhöhen können und uns stressresistenter, fokussierter und entscheidungsfreudiger machen. Wie das funktioniert? „Die unterschiedlichen Bewegungselementwerden in verschiedenen Regionen des Denkapparates koordiniert. Bei Life Kinetik arbeiten mehrere Areale zusammen“, so Stenger. So verknüpft sich auch im Alltag das aktive Denken mit Sitz im Vorderhirn besser mit Langzeitgedächtnis und visueller Wahrnehmung in hinteren Hirnregionen. So geht’s: Arme parallel vorm Körper halten. In jeder Hand hat man einen Ball, den man zehn Zentimeter hochwirft und wieder fängt, mit gekreuzten Armen. Man kann die Übung erschweren, indem man die Bälle mit gekreuzten Armen wirft, das Kreuzen der Arme auflöst und wieder fängt. Oder: Zwei Minuten lang mit links ein Tuch über dem Kopf kreisen lassen, während die rechte Hand einen Ball nach oben wirft und fängt; dann seitenverkehrt wiederholen oder abwandeln – Hauptsache, das Gehirn verfällt nicht in einen Automatismus.
Autorin: Anette Schmiede