Für die manche Eltern ist es eine Erleichterung, wenn die eigenen Kinder erwachsen werden und ausziehen. Für andere hingegen ist dieser Schritt nur schwer zu verkraften – Experten sprechen vom Empty-Nest-Syndrom. In ihrer Kolumne berichtet Psychotherapeutin und Familienberaterin Andrea Wenger von derartigen Fällen aus ihrer Praxis und gibt Tipps, wie es Müttern und Vätern gelingt, loszulassen.
Kinder – sagt ein bekanntes Sprichwort – brauchen Wurzeln und Flügel von ihren Eltern. Der Tag wird aber kommen, an dem die Kinder diese Flügel auch ausbreiten und mit ihnen das heimatliche Nest verlassen. Es mag Eltern geben, die diesen Moment herbeisehnen, aber den meisten fällt der Abschied schwer. Das Empty-Nest-Syndrom betrifft laut Studien vor allem Frauen.
Als wäre man nicht schon mit Klimakterium und Midlife-Crisis geplagt genug, verlassen nun auch noch die Söhne und Töchter das traute Heim und berauben ihre Mütter ihres Lebensmittelpunkts. Nicht mehr den Kindern hinterher räumen zu müssen, nicht mehr regelmäßig warme Mahlzeiten auf den Tisch stellen zu müssen, nicht mehr den eigenen Zeitplan dem der Kinder unterordnen zu müssen, könnte so schön sein, fühlt sich aber leider oft geradezu wie amputiert an. Schlaflosigkeit, Traurigkeit, Lustlosigkeit – ja sogar schwere Depressionen können Folge des Empty-Nest-Syndroms sein und müssen teilweise sogar therapeutisch behandelt werden.
Alleinerziehende Mütter haben vielleicht mit tiefen Einsamkeitsgefühlen zu kämpfen. Bei zusammenlebenden Paaren steigt die Trennungsrate nach dem Auszug der Kinder deutlich an. Es fehlt plötzlich der gemeinsame Bezugspunkt. Gottseidank gilt auch für diese Krise, was für alle Krisen gilt: Weicht man ihr nicht aus, erkennt man die Zeit des „leeren Nests“ als unweigerliche Umbruchsphase an. Wird die Ablösung der Kinder mit oder ohne therapeutische Hilfe angemessen betrauert und gelingt es, loszulassen, ergeben sich ungeheuere Chancen, bisher Versäumtes nachzuholen und nicht gelebte Träume endlich zu verwirklichen.
Vielleicht jahrzehntelang vernachlässigte Themen und Wünsche tauchen aus der Versenkung auf. Im Rückblick mag es sich dann manchmal herausstellen, dass man Gelegenheiten und Möglichkeiten verstreichen ließ oder sie zugunsten der Kinder und Familie ignorieren musste. Mögen auch einige Türen inzwischen geschlossen sein, alle sind es sicher nicht. Sie laden dazu ein, einzutreten und sich bislang brachliegende Wünsche zu erfüllen.
Elisabeth (56 Jahre) ist seit 26 Jahren mit dem Manager eines großen Konzerns verheiratet.
Sie zog nicht nur die gemeinsamen Söhne groß, sondern musste an der Seite ihres Mannes auch stets zahlreiche Repräsentationspflichten wahrnehmen. Dabei blieb ihr diese Welt der Wirtschaft stets ein wenig fremd. Als zutiefst kreativem Menschen gehörte Elisabeths Liebe dem Theater und der vortragenden Kunst. Nach dem Auszug ihrer Söhne schloss sie sich einer Laientheatergruppe an. Anfänglich bekam sie nur kleine Nebenrollen, aber mit immer größerer Erfahrung und Routine wurde sie auch in Hauptrollen besetzt und übernahm sogar kleinere Regieaufgaben.
Anna (59 Jahre) lernte ihren Mann mit 24 Jahren kennen.
Nach der Geburt ihres ersten Sohnes unterbrach sie ihr Architekturstudium. Sie wollte es fortsetzen, sobald ihr Sohn die Krippe besuchen würde. Inzwischen kündigte sich aber bereits ihre Tochter an. Nach der Geburt eines weiteren Sohnes gab Anna ihr Studium endgültig auf. Sie arbeitete stundenweise als ungelernte Kraft in diversen Büros. Dass sie keine abgeschlossene Ausbildung hatte, belastete sie sehr. Sie fühlte sich deshalb oft minderwertig. Nachdem ihr jüngster Sohn als letztes Kind ausgezogen war, nahm sie ihr Studium tatsächlich wieder auf und schloss es erfolgreich ab. Es ging ihr nicht mehr darum, als Architektin zu arbeiten. Sie war einfach stolz auf ihre Ausbildung und ihre Kenntnisse in einem Bereich, der sie interessierte.
Michaela (51 Jahre) ist gelernte Kosmetikerin.
Nach der Scheidung von ihrem Mann arbeitete sie als Vollzeitkraft bei einer Drogeriekette und zog die gemeinsame Tochter groß. Nachdem diese eine Ausbildung im Ausland begonnen hatte, wagte Michaela es, sich einen lang gehegten Traum zu erfüllen. Zusammen mit einer Freundin eröffnete sie ein eigenes Studio, mit dem sie nach anfänglichen Schwierigkeiten auch schwarze Zahlen schrieb.
Dies sind nur drei Beispiele von Frauen, die nicht in der Trauer über den Auszug ihrer Kinder stecken geblieben sind, sondern darin eine Chance sahen, sich selbst zu verwirklichen. Die Zeit nach dem leeren Nest bietet die Chance, lose Lebensfäden wieder aufzunehmen und lange gehegte Wünsche altersgerecht zu realisieren.
Und was die Kinder angeht, so bleibt hoffentlich die Freude und die Genugtuung darüber, sie zu fähigen und verantwortungsbewussten Erwachsenen erzogen zu haben, weil man ihnen Wurzeln gegeben hat, um zu wachsen und Flügel, um in die Welt zu fliegen.
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